Eine kollektiv-szenische Einrichtung

Dramaturg Daniel Theuring interviewt seine Kolleg:innen Roman Blumenschein und Ayşe Gülsüm Özel zu der Produktion „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler.

„Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist in unserem Spielplan ein von Rudolf Frey getauftes „Rucksackstück“. Nicht weil es im weitesten Sinne um Berg und Tal geht, sondern weil hier ein planerischer Trick angewendet wird. Und der geht so: die Ressource Schauspieler und Regisseur wird aus einem in den Proben befindlichen Stückes akquiriert (Rucksack). In unserem konkreten Fall ging es um „Die treibende Kraft“ als Hauptstück mit einer großen Besetzung, in der nicht immer alle auf den Proben anwesend sein müssen. Diese Freiphasen der einzelnen Schauspieler:innen sind dann als Rahmenzeiten für das Rucksackstück verfügbar, wobei immer dann, wenn das Hauptstück geprobt wird, Teile des Kollektivs in Fassung, Text und szenischer Einrichtung nach Verfügbarkeit daran weiterarbeiten. Eigentlich eine ganz einfache Kalkulation und ein sehr moderner Ansatz, weil sich die klassische hierarchische Arbeit der Regisseur:innen oder szenischen Realisier:innen auf mehrere Schultern verteilt. Unser Kollektiv für „Ein ganzes Leben“ setzt sich aus Roman Blumenschein, Rudolf Frey, Ayşe Özel und mir Daniel Theuring zusammen. Ein weiterer Vorteil dieses Prozederes ist, dass Rudi aus Sicht der Regie Ayşe aus Sicht der Ausstattung Roman aus Sicht des Schauspiels und ich aus Sicht der Dramaturgie natürlich unterschiedlich spiegeln und dabei ein breiter Bereich in der Probenarbeit abgedeckt wird und dass dieses Team insgesamt eine riesige Theatererfahrung eint, die eine Einzelperson niemals haben könnte. Während dieser Probenphase habe ich Ayşe und Roman dazu befragt.  

Daniel Theuring: Ich fand die Idee von Rudolf Frey, gemeinsam eine Arbeit zu entwickeln, die wie ein Rucksack funktioniert, großartig und war sehr gespannt darauf. Wie ging es euch mit dieser Idee? 

Roman Blumenschein: Den Roman „Ein ganzes Leben“ kenn ich schon lange und als Rudolf Frey mir seine Idee vorgeschlagen hat, war für mich sofort klar, dass ich da anbeißen muss! Wie das mit dem Rucksack genau aussehen würde, konnte ich mir da noch gar nicht so genau vorstellen, lasse mich aber immer gerne auf Experimente ein. 

Ayşe Gülsüm Özel: Das Wort „Rucksacktheater“ erweckte gleich mein Interesse, als ich es zum ersten Mal von Rudi zu hören bekam. Es deutet auf eine kleine Dimension hin, gleichzeitig heißt das Stück aber auch „Ein ganzes Leben“. Kombiniert mit dem Wunsch, als Kollektiv zu arbeiten, stellt die Arbeit eine besondere künstlerische Herausforderung dar und eine, die mir großen Spaß macht. 

DT: Ihr beide kennt Rudolf Frey schon länger als ich und habt beide schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet, aber auch noch nie in einer kollektiven Einrichtung, oder?  
Für mich ist es das erste Mal in so einer Konstellation und ich bin begeistert, wie gut das funktioniert. Wie geht es euch damit? 

RB: Kollektiv zu arbeiten, ist für mich seit etwa drei Jahren der größte Anreiz in meinem Beruf. In verschiedensten Konstellationen haben wir in Wien Theaterstücke, Hörspiele, Live- Performances und Forschungsprojekte realisiert. Für kollektives Arbeiten am Theater wurden auch schon verschiedene Methoden entwickelt, damit habe ich mich noch gar nicht viel beschäftigt. Für mich bedeutet kollektives Arbeiten, das sich alle auf Augenhöhe begegnen. Regisseur:innen, Spieler:innen, Dramaturg:innen, Bühnenbildner:innen, Musiker:innen, Autor:innen und alle anderen Formen von Künstler:innen, aber auch Techniker:innen, Assistent:innen usw. Die Arbeitsprozesse finden weniger parallel statt, sondern verbinden sich zu einem gemeinsamen. Das Positive daran ist, dass alle mehr Einblick und Verständnis für die kreativen Prozesse der anderen bekommen, was wiederum die Kreativität aller anregt. Und wenn sich niemand hinter einer klar zugeteilten Aufgabe verstecken kann, wird auch von jeder einzelnen Person eine größere Form der Verantwortung für das gesamte Projekt übernommen. Meiner Erfahrung nach klappt kollektiv arbeiten am besten, wenn man sich bereits kennt und mit dem Potenzial aller vertraut ist. Mit dem Dream-Team von „Ein ganzes Leben“ fühle ich mich wirklich sehr beschenkt! 

AÖ: Theater ist seinem Wesen nach ein Gesamtkunstwerk, in dem viele Beteiligte mitwirken und jede:r seine Perspektiven einbringt. Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, an dem die kollektive Arbeitsweise passen könnte. 2018 lernte ich das Performance-Kollektiv She She Pop auf einem Festival kennen und nahm an einem mehrtägigen Workshop teil, in dem sie uns vorstellten, was sie als Kollektiv ausmacht und ihre Arbeitsweise vermittelten. Die Stärke und Größe der Gemeinsamkeit ist unbestritten, erfordert aber viel mehr Zeit, Gespräch und Geduld füreinander als in hierarchischen Strukturen. Und das funktioniert, wie Roman auch sagt, am besten, wenn die Beteiligten sich kennen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der alles größer und schneller werden muss, der keinen Raum für nicht erfolgreiche Experimente anbietet. Ich habe mich auch mit dem Konzept „Ayşe X Staatstheater“ von Emre Akal und Antigone Akgün befasst, das für Chancengleichheit und Basisdemokratie im Theater steht, und eine Hypothese entwickelt, wie das Theater dann aussehen würde. Das ist eine tolle Vorstellung und sollte nicht nur Fiktion bleiben. Als Rudi mir unsere erste gemeinsame Arbeit „Dante:Dreams“ anbot, die auch im Kollektiv entstand, stand das Thema für mich bereits im Mittelpunkt und ich bekam so auch  die Möglichkeit die Theorien in der Praxis zu betrachten. Die Erfahrung war ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, dass wir nun wieder die Möglichkeit haben, ein weiteres gemeinsames Experiment auf die Beine zu stellen und bin wirklich gespannt, wie gut unser Team mit Daniel, Roman und Rudi zusammenarbeitet.

Teaser: Film IT Südtirol

DT: Roman, ich vermute, dass es für Dich die insgesamt anstrengendste Erfahrung ist, weil Du ja fast immer gleichzeitig auch als Schauspieler in „Die treibende Kraft“ arbeitest. Wie muss man sich das vorstellen? 

RB: Da gibt es einerseits die organisatorische Herausforderung, die beiden Dinge unter einen Hut zu bekommen. Anstrengend ist aber vor allem die künstlerische Komponente, da man dauernd auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt und sich nicht mit seiner Kreativität voll und ganz auf eine Sache konzentrieren kann. Ich bin inzwischen von meinem Berufsalltag gewöhnt, dass sich Projekte überschneiden, aber mit so einem Extrem hatte ich es noch nie zu tun. Nach der Premiere von „Die treibende Kraft“ musste ich dann doch eine große Erleichterung feststellen, mich nur mehr auf „Ein ganzes Leben“ konzentrieren zu können.  

DT: Ayşe, Du machst normalerweise Bühnen, Kostüme und hast zudem auch noch einen Lehrauftrag an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ist diese Arbeitsweise ein Ansatz mit Zukunftspotenzial? 

AÖ: Die Studierenden interessieren sich für das kollektive Arbeiten und wir konzipieren immer wieder Projekte, in denen wir diese Möglichkeit anbieten. Wir betrachten dabei, dass manchmal der Wunsch danach aus einem Pragmatismus entspringt, und das widerspricht sich. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Kollektiv im Vergleich zu Hierarchie mehr Verantwortung bedeutet, mehr Ressourcen braucht und mehr Vertrauen erfordert. Nur dann, wenn wir die Bedingungen anpassen, kann der Ansatz eine Zukunft haben. 

DT: Was war euer erster Eindruck vom Stoff „Ein ganzes Leben“? 

RB: Ich kannte den Roman schon. Ich kann mich erinnern, dass ich ihn beim ersten Lesen vor ein paar Jahren verschlungen habe und er unmittelbar eine sehr wichtige und tröstliche Komponente in meinem Leben eingenommen hat. Und jetzt bekomme ich mit, dass es sehr vielen Menschen genau so erging. Das finde ich sehr spannend. Der Frage nachzugehen, was genau diese Qualität ausmacht in der Erzählung.  

AÖ: Ich hatte das Buch auch in meinem Regal, hatte es aber noch nicht gelesen. Ich habe das Buch geschenkt bekommen, weil ich schon seit vielen Jahren für die Vereinigten Bühnen nach Bozen komme, aber sehr wenig über die Berge und das Leben in den Bergen weiß. Jetzt kenne ich ein ganzes Leben in den Bergen und die Qualität dieses Romans haben mir dieses Leben so präsentiert, dass ich wiederum daraus etwas für mein Leben mitnehmen kann. 

DT: Ich habe den Text als sehr inspirierend, schlagfertig, karg und geheimnisvoll zugleich empfunden, gleichzeitig hatte ich allein erst einmal viele Fragen, wie man den wohl in einer performativen und multidisziplinären Art und Weise auf die Bühne bringen kann, ohne dass da nicht die bekannte frontal Vorlesesituation eintritt. Allein hätte ich mir das ehrlich gesagt nur konventionell als szenische Lesung vorstellen können. Unsere gemeinsame Power, den Probenprozess erheblich offener und breiter in allen Bereich werden lassen und das ist eine extrem gute Erfahrung. Wie geht es euch damit? 

AÖ: Ja, das ist ein gemeinsames Abenteuer mit offenem Ende auf den Spuren von Andreas Egger. Aber es geht nicht nur darum, seine Geschichte zu erzählen, sondern Andreas Egger erlebbar und spürbar zu machen. Durch diesen Ansatz sind unsere Proben sehr sinnlich geworden und das ist etwas ganz Besonderes.  

RB: Ich kenn ja die Arbeiten von Ayşe und Rudolf und ihre oft unkonventionellen Herangehensweisen. Hmm, wie soll ich das beschreiben? Wenn man gefragt wird, ob man einen tollen Text gemeinsam mit so bemerkenswerten Künstler:innen auf eine Bühne stellen will, fühlt sich das an, als würde man als Kind vorm Weihnachtsbaum stehen. Ich liebe solche Abenteuer. Auch weil man nicht weiß, was genau da am Ende rauskommen wird.  

DT: Als Dramaturg bin ich in gewisser Weise auch immer verpflichtet, das Werk des Autors zu schützen. Dabei sind Änderungen möglich, aber der Kern und die Struktur sollte dabei nicht neu übersetzt werden, außer es geht um völlig überkommene Vorgänge und Verhaltensweisen, die heute nicht mehr zu vertreten sind. Dann muss man allerdings auch überlegen, ob man den Stoff noch für die Bühne einrichten will und oder warum. Robert Seethaler sagt, dass es ihm gleich ist, was andere Medien, Theater oder Film aus seinem Stoff machen, dass das gelingen und schiefgehen kann, ist ihm bewusst. Aber sein Roman steht deshalb ja trotzdem als Referenz in der Welt und kann dadurch nicht mehr geschmälert werden. Das ist eine sehr liberale und uneitle Haltung für einen Autor, die uns die Freiheit gegeben hat, mit seinem geistigen Eigentum in unserer Fassung für die Bühne frei umgehen zu können. Was bedeutet das für Schauspiel und Ausstattung?  

RB: Das ist eine tolle Haltung von Herrn Seethaler! Man nimmt ihm ja nichts weg. Sondern lässt etwas Neues entstehen und generiert dadurch einen universalen künstlerischen Entwicklungsprozess. Für mich als Schauspieler bedeutet das, dass ich den Originaltext nach bühnentauglichem „Material“ analysiere. Was für Figuren gibt es? Gibt es direkte Reden? Welche Schauplätze und Situationen gibt es? So hatten wir alle unsere unterschiedlichen Annäherungen und letztendlich eine, wie ich finde, sehr gute verdichtete Textfassung erstellt. 

Foto: Anna Cerrato

AÖ: Jede:r von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Verfilmung unseres Lieblingsromans im Kino ganz anders aussah, als wir es uns beim Lesen vorgestellt haben. Vorstellungskraft entsteht aus Wahrnehmungserfahrungen und das ist bei jedem Menschen anders. Es gibt nicht nur einen Andreas Egger, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die diese Geschichte erfahren haben, und ich kann nur den einen Egger gestalten, den nur ich kenne. 

DT: Es ist schön gemeinsam mit euch dieses Buch auf eine Theaterbühne zu bringen. Wir haben viel gemeinsam erlebt und voneinander profitiert.  

AÖ: Egger ist ein Voltron und wir bilden ihn gemeinsam. Wir öffnen uns alle sehr weit und arbeiten eng zusammen, so habe ich die Möglichkeit, eure Herangehensweisen, eure Prozesse mitzuerleben. Das bereichert mich.  

DT: Und der Prozess soll nach der Premiere ja auch noch nicht enden. Die Einrichtung soll sich immer weiterentwickeln. Auch eine sehr moderne Methode, die den lebendigen Prozess im Theater vorantreibt.  

RB: Darauf bin ich sehr gespannt. Die Idee ist ja, ein paar Elemente in diesem Theatererlebnis zu haben, die nicht berechenbar sind, also immer einen neuen überraschenden Input geben für den weiteren Verlauf der Performance. Oder etwas, das wachsen kann und von Vorstellung zu Vorstellung mehr Form annimmt. Ja, ich glaube, es ist ein zeitgemäßer Ansatz, Theater aus dem abgesicherten Setting von- Publikum sitzt im Zuschauerraum, Vorhang auf Show auf der Bühne, Vorhang zu – mehr zu einem Happening zu entwickeln und dass sich das Publikum mehr einbringen muss und in gewisser Weise Mitgestalter wird. Jedenfalls würde mich das sehr reizen. 

AÖ: Theater findet live statt und meiner Meinung nach wird im Jahrhundert der fortschreitenden Digitalität die Bedeutung dieses Live-Charakters zunehmen, was sich am deutlichsten in den Happening-Momenten manifestiert. Zumindest geht es mir so, dass ich mir diese Happening-Momente auf der Bühne zunehmend mehr wünsche. Sie bringen Publikum und Performer:innen näher zusammen und erzeugen eine exklusive Gemeinschaft für die Dauer der Performances. Das, was an dem Abend auf der Bühne passiert, wird morgen nicht mehr dasselbe sein. 

DT: Warum sollte man sich diese szenische Einrichtung eines „Rucksacks“ nicht entgehen lassen?

RB: Na, an erster Stelle natürlich wegen dieser großartigen und inspirierenden Figur Andreas Egger, in dessen ganzes Leben wir Einblick geben. Der trotz Schicksalsschlägen und Hindernissen es schafft, eine versöhnliche und hingebungsvolle Beziehung zum Leben zu behalten. Und weil das Publikum den Theaterraum anders erfahren wird, als es ihn vielleicht gewohnt ist. Und weil ich mich sehr darauf freue, die Reise durch Eggers Leben mit vielen Menschen gemeinsam zu begehen.  

AÖ: Und weil dieser Streifzug durch Eggers Leben mit seinen außergewöhnlich reduzierten Mitteln das Publikum von der großen Wirkung des Theaterzaubers überzeugen kann. 

Vielen Dank!