Das Publikum emotional packen 

Martin Finnland, Künstlerischer Leiter des Kollektivs „Nesterval“ und Regisseur von „Die 7 Tage von Mariahaim“ über immersives Theater und die Arbeit in Bozen. 

Elisabeth Thaler: Nesterval ist ein immersives Theaterensemble. Kannst du diesen Begriff bitte genauer erklären? Und was erwartet das Publikum bei dieser Theaterform? 

Martin Finnland: Immersives Theater findet nicht auf einer Bühne statt, sondern im Raum mit dem Publikum. Das Publikum taucht dabei mit allen Sinnen ins Geschehen ein und wird mitunter auch zum Teil der Geschichte. Bei „Die 7 Tage von Mariahaim“ wird es zu Hochzeitsgästen, die für diesen Anlass in die Dorfgemeinschaft gekommen sind. Wir machen kein Mitmachtheater, keine Sorge. Aber durch die Immersion schaffen wir es, unser Publikum emotional zu packen. Zuschauer:innen können sich nicht wie sonst im Theater gemütlich auf ihre Plätze zurückziehen und im Dunkel des Auditoriums auf Distanz zum Geschehen gehen.  

Welche Themen stehen in „Die 7 Tage von Mariahaim“ im Mittelpunkt? 

Themen, die wir in „Die 7 Tage von Mariahaim“ bearbeiten, sind ein (verklärter, verkitschter) Heimatbegriff, das Ausgegrenzt sein, Grenzüberschreitungen und die Angst vor dem Anderen. Natürlich geht es auch um Gewalt, toxische Hierarchien und Strukturen. Aber auch um Themen wie Familie, Liebe, Eifersucht… 

Martin Finnland ©Alexandra Thompson

Es ist euch wichtig, den kulturellen, sozialen und historischen Hintergrund des jeweiligen Ortes in eure Projekte miteinzubeziehen. Wieviel Südtirol steckt in „Die 7 Tage von Mariahaim“? 

Ein großer Teil unserer Theaterarbeit besteht immer darin, die Topografie und die Geschichte jener Orte zu recherchieren und zu beherrschen, die wir jeweils bespielen. „Das Dorf“, auf dem „Die 7 Tage von Mariahaim“ beruht, haben wir bereits an unterschiedlichen Orten realisiert: in Wien, in Finnland, im Flachgau/Salzburg. Auch wenn unser Dorf fiktiv ist, wir das Jahr 1964 haben, wurde die Geschichte immer wieder für die entsprechenden Orte adaptiert. So wird auch für Bozen die durchaus spannende Geschichte von Südtirol in unser Stück hineingewebt.  

Hat sich dein Heimatbegriff durch diese Arbeit verändert? Inwiefern? 

Als halber Finne, halber Österreicher ist der Begriff der Heimat für mich eine Frage, die mich seit meiner Jugend bewegt. Ich bin sehr froh, mit diesem Stück einen Teil dieser Geschichte aufarbeiten und selber auch noch einmal reflektieren zu können: Heimat ist für mich der Ort, wo man seine Familie hat – ob diese allerdings biologisch oder frei gewählt ist, soll jede Person selbst entscheiden. Genau so wie jede Person ein Anrecht auf diese Heimat haben sollte. 

FLAMINGA: Hidden tales and paths

KIDS CULTURE FESTIVAL 24  

#participation #performance #theater #experience

Laborparkour mit Theaterpädagogin Brigitte Moscon und Schauspieler Paolo Tosin (Vereinigte Bühnen Bozen)

für Kinder ab 6 Jahren / zweisprachig DE+IT

20—22. September, Transart OASIE (Dantestraße 32, Bozen) 

jeweils um 15 und 16 Uhr 

Dauer: 50 Minuten

Magisch, mannigfaltig, groß und grün: Was ist die Transart OASIE noch alles? Hier gibt es Unsinniges, Eigensinniges und Vielsinniges zu entdecken. Wir bewegen uns achtsam und langsam, erkunden gemeinsam einen neuen Ort, der vielleicht bald nicht mehr sein wird … Wenn wir Spuren erspähen, folgen wir ihnen behutsam, lassen uns von ihnen leiten, begleiten und inspirieren: Farben, Formen, Schatten und Muster weisen uns den Weg über ein Gelände, wo Stadt und Natur und Malerei miteinander verschmelzen. Augen auf, Ohren auf, Hände und Füße bewegen sich, die Nase schnüffelt und erforscht alles. Und FLAMINGA ruft laut: Welche Perspektiven verstecken sich in diesem Raum? Hoch, tief oder in der Mitte? Hinten oder vorne? Und wir folgen ihrem Ruf: Aus verschiedenen Blickrichtungen nehmen wir ihn wahr, diesen neuen Raum. Und fragen uns auch: Welche Geschichten mögen hier wohl noch entdeckt werden? Welche Wörter müssen dafür noch gefunden und erfunden werden?

Eltern können mit ihren Kindern am Anfang zusammen teilnehmen, im zweiten Teil warten die Eltern in der Chill-Lounge auf ihre Kinder.
Anmeldung vor Ort / info@kidscultureclub.it / Tel. +39 353 446 6954

THEATER FÜR ALLE! ALLE WILLKOMMEN! ALLES LIVE! 

Das neue Programm der Spielzeit 2024-25 ist da! 

Wir freuen uns, Ihnen heute das Programm der Spielzeit 2024-2025 der Vereinigten Bühnen Bozen präsentieren zu dürfen: die zweite Saison unter der neuen Intendanz von Rudolf Frey. Rund 25 Mitarbeiter:innen aus unserem Stammteam und etwa 100 regionale und internationale Gäste arbeiten an den Vereinigten Bühnen Bozen – dem zeitgenössischen, eigenproduzierenden Theaterbetrieb Südtirols, der in dieser Spielzeit erneut rund hundert Vorstellungen anbieten wird. Es ist unser Ziel, mit Begeisterung einen einzigartigen Raum für Auseinandersetzung zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu schaffen, der sinnliches Theater in Südtirol am Puls der Zeit ermöglicht.  

Auf viele spannende Begegnungen! 

Judith Gögele, Präsidentin

Rudolf Frey, Intendant  

Fotos: Luca Guadagnini

„Auch in der kommenden Spielzeit 2024/25 der Vereinigten Bühnen Bozen werden wir unsere bereits in der vergangenen Saison bekundeten Schlagworte MULTIDISZIPLINARITÄT und ZEITGENOSSENSCHAFT weiterverfolgen. Darüber hinaus freut mich, dass wir die für Südtirol völlig neue Form des immersiven Theaters in Zusammenarbeit mit den Shooting-Stars der österreichischen Theaterszene Nesterval zeigen werden. Mit Anna Gschnitzer und Sepp Mall bringen wir zwei prägende Stimmen der Südtiroler Gegenwart auf die Bühne und auch die Kollaboration mit der regionalen Musikwelt spiegelt sich in der Zusammenarbeit mit Maria Moling wider.  Die große Musiktheater-Produktion ist im kommenden Jahr neuerlich ein mitreißendes Rock-Musical, einer der bemerkenswertesten Broadway-Titel: Jonathan Larsons Rent. Alle Stücke der Spielzeit verbinden vielfältige Fragestellungen rund um familiäre Zugehörigkeit und menschliche Koexistenz in unserer fragilen Welt der Gegenwart.“  

Rudolf Frey 

Mit der Vielfältigkeit und Freiheit der Operette spielen 

Ein Gespräch mit der Musikalischen Leiterin Elisa Gogou und der Regisseurin Susanne Lietzow 

Elisabeth Thaler: „Die lustige Witwe“ ist deine erste Operetteninszenierung. Was hat dich an diesem Genre gereizt? 

Susanne Lietzow: Im ersten Moment hat mich der Verruf des Genres gereizt. Die Operette wurde nach dem Vorbild der Pariser Opéra comique als eigenständige Kunstform erfunden, um der Oper eine freiere Art von Musiktheater entgegenzustellen. Die Aufführungsgeschichte jedoch hat die Operette extrem in ein konservatives Eck gebracht. Es gibt nun viele Bestrebungen, das Genre zu aktualisieren und eine andere Generation von Zuschauer:innen neu dafür zu gewinnen. Das hat mich interessiert. „Die lustige Witwe“ ist zudem eine Komödie, die auch einen absurden Zugriff erlaubt, mit einer wunderschönen Liebesgeschichte im Zentrum.  

Die Operette wird oft als „leichte Unterhaltung“ angesehen. Was ist die Herausforderung, eine Operette zu dirigieren? 

Elisa Gogou: Als Kapellmeister:in ist es absolut notwendig, Operetten zu dirigieren, weil es technisch zu den wichtigsten Aufgaben gehört. Zum Beispiel die Wechsel der Tempi, Übergänge, Auftakte … lernt man nur durch die Operette. Sonst kann man Puccini ecc. nicht begleiten. Einen Walzer zu dirigieren, ist nämlich alles andere als einfach. 

Elisa Gogou
Foto: Anna Cerrato

„Die lustige Witwe“ wird als 1. Tanzoperette bezeichnet. Was war musikalisch das Neue an diesem Werk?  

Elisa Gogou: Lehár war im Genre der Operette ein Anfänger und musste seinen eigenen Stil finden. Es gab Berührungspunkte durch seine Biografie, da er als Violinist in der Kapelle seines Vaters gespielt hat, der wiederum am Theater an der Wien unter Franz von Suppé gespielt hat. Dennoch kannte Lehár als Militärkapellmeister den Walzer nicht sehr gut. Er schaffte es aber, derart kreative und geniale Melodien zu schreiben, die nur mit der „Fledermaus“ zu vergleichen sind. In der „Lustigen Witwe“ unterscheidet er musikalisch zwischen den beiden Regionen. Für Pontevedro schreibt er Mazurka, Polonaise, Kolo. Wenn Hanna Glawari zu den Herren spricht, benutzt sie den Walzer. Für die Franzosen komponiert er Cancan, Galopp, Märsche und den Langsamen Walzer. Mit dieser Operette läutete Lehár eine neue Ära ein. Danach wurden international viele Stücke nach dem Vorbild der „Lustigen Witwe“ geschrieben, doch niemand konnte sie übertreffen.  

Lehár ging nicht nur musikalisch neue Wege, sondern auch inhaltlich. Er und seine Librettisten León und Stein sprachen aktuelle politische und gesellschaftliche Themen an. Das fiktive „Pontevedero“ verweist beispielsweise auf „Montenegro“, die „Damenwahl“ im 1. Finale bezieht sich auf das damals diskutierte allgemeine Wahlrecht. Hanna Glawari gilt als moderne Darstellung einer unabhängigen Frau. Wo trifft dieses Stück auch heute noch den Nerv der Zeit? 

Susanne Lietzow: Die Frauenfiguren in der „Lustigen Witwe“ sind von Lehár sehr stark gezeichnet. Dennoch wissen wir alle, dass wir heute frauenpolitisch anders mit diesen Stoffen umgehen müssen, weil sie uninterpretiert auf der Bühne nicht mehr funktionieren. Vor allem muss man die „Altherrenwitze“ eliminieren. Es gibt die wehrhafte Frau im Zentrum, die selbstbewusst um ihre Zukunft kämpft. Es war mir auch ein Anliegen, die Pariser Grisetten nicht als männerbelustigende Hupfdohlen auf die Bühne zu stellen, sondern als Frauen, die sich für dieses Leben bewusst entschieden haben. Diese Umdrehungen sind mir sehr wichtig. Zudem ist es ja auch eine Komödie, und Komödien haben immer einen tieferen Hintergrund und Sinn. Natürlich kann das Spiel mit einer Exilgesellschaft, die zu Hause eine Diktatur erlebt hat und sehr, sehr gerne das demokratische System in Paris mit lebt, als Assoziation ins Jetzt gelesen werden, wo Diktaturen sich wieder ausbreiten und die über Jahre erkämpften Rechte und Freiheiten unserer Gesellschaft wieder angegriffen werden.

Ein humorvoller und gleichzeitig politischer Zugang scheinen gerade bei der Operette oft ein Widerspruch. Wie bringst du beides zusammen? 

Susanne Lietzow: Man verstärkt Assoziationen. Als Beispiel nenne ich das Thema „Klassengesellschaft“ in der Beziehung von Hanna und Danilo. Bei uns stammt sie nicht vom Landadel ab, sondern ist ein Dienstmädchen und gehört einem Stand an, der der Liebe zu Danilo völlig im Weg steht. Das Spannende ist, dass sich Hanna komplett darüber hinwegsetzt. In unserer Inszenierung haben wir den beiden eine uneheliche Tochter zur Seite gestellt. Hanna legt großen Wert darauf, dass dieses Mädchen eine so gute Ausbildung bekommt, dass sie auch ohne Mann überleben könnte. Das kann Hanna noch nicht.  

Susanne Lietzow
Foto: Susanne Lietzow

Wenn wir auf die Liebe schauen, sehen wir verschiedene Liebesgeschichten: die unerfüllte Liebe, die verbotene Liebe, den erotischen Liebeskampf. Spürt man diese Unterschiede auch in der Musik? 

Elisa Gogou: In Lehárs Musik geht alles um Erotik und Sinnlichkeit, aber in verschiedenen Facetten. Valencienne ist eine Kokette, das spürt man auch in der Musik, die ihren Charakter beschreibt, ihre Gefühle und Bewegungen. Wenn man die Melodien hört, sieht man Valencienne vor sich, wie sie mit Leichtigkeit und spielerisch mit den Männern umgeht. Das haben die Frauen in dieser Gesellschaft trainiert. Wenn Hanna zu den Männern spricht und ihnen nahekommt, benutzt sie den Langsamen Walzer. Sie hat eine starke Seite und darf entscheiden, wen sie nehmen kann und wen nicht. Beim Duett „Lippen schweigen“ spürt man, dass sich Hanna und Danilo lieben. Es war ihr Schicksal, dass sie sich wiedertreffen und wiederfinden, egal wie ihr Leben inzwischen verlaufen ist. Das Chanson der Grisetten hingegen ist frech. Die Beschreibung der Charaktere ist musikalisch sehr durchsichtig. 

Susanne, du hast die Dialoge zum Teil umgeschrieben und aktualisiert. Wie bist du mit dem Text umgegangen?  

Susanne Lietzow: Manchmal ist der Text im Original „verplaudert“, manchmal altmodisch und frauenfeindlich. Ich habe versucht, die Sprache frecher und direkter zu nehmen. Sprache ist eine totale Behauptung. Wir spielen Tschechow am Theater und tun so, als ob wir alle Russ:innen wären. Mich hat das Aufeinanderprallen von Franzosen und Slawen in der „Lustigen Witwe“ interessiert, weil es zwei sehr verschiedene Mentalitäten sind, auch sprachlich. Es sind zwei unterschiedliche Melodien. Das fand ich spannend und sehr schön.  

Elisa Gogou: Ich finde es auch so toll, dass die Figuren die eigene Sprache benutzen, besonders um zu schimpfen.   

Die 20er-Jahre, der „Tanz auf dem Vulkan“, spielen in unserer Inszenierung eine große Rolle. Wo siehst du eine Verbindung zwischen den 20-er Jahren des 20. und den 20-er Jahren des 21. Jahrhunderts? 

Susanne Lietzow: Wir haben die Operette zeitlich nicht ins Heute gesetzt, sondern in die 20-er Jahre. Mich berührt diese Zeit, in der nach der großen Verwerfung des 1. Weltkrieges 20 Jahre später wieder ein Weltkrieg möglich war. In den 20-er Jahren erlebten die Menschen eine enorme Aufbruchstimmung in allen Bereichen: für Frauen, für Demokratie … es war eine Zeitenöffnung, die leider nur kurz gedauert hat. Wie war es möglich, nach diesem Gefühl des Aufbruchs so einen Backlash zu veranstalten? Unsere Öffnung heute hat etwas länger angedauert, doch erleben wir zur Zeit leider auch wieder Demokratieverlust, Rückschritt in allen Bereichen. Insofern ist es schön, dass wir auf der Bühne in eine Welt hineinschauen, wo Aufbruchstimmung herrscht.  

Elisa, was liebst du an der „Lustigen Witwe“?  

Elisa Gogou: Ich liebe die Vielfältigkeit und die Freiheit, die diese Operette zulässt. Die Künstler:innen müssen sich auf der Bühne frei bewegen und singen können. Ich muss als Dirigentin in der Lage sein, das Orchester mitschweben zu lassen. In der „Lustigen Witwe“ ist die Musik so extrovertiert, dass die Sänger:innen die Gefühle spüren, mir in den Graben geben und ich als Mediatorin diese dem Orchester  weitergeben muss. Das macht jede Vorstellung spannend und nie langweilig.  

Vielen Dank für das Gespräch! 

Eine kollektiv-szenische Einrichtung

Dramaturg Daniel Theuring interviewt seine Kolleg:innen Roman Blumenschein und Ayşe Gülsüm Özel zu der Produktion „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler.

„Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler ist in unserem Spielplan ein von Rudolf Frey getauftes „Rucksackstück“. Nicht weil es im weitesten Sinne um Berg und Tal geht, sondern weil hier ein planerischer Trick angewendet wird. Und der geht so: die Ressource Schauspieler und Regisseur wird aus einem in den Proben befindlichen Stückes akquiriert (Rucksack). In unserem konkreten Fall ging es um „Die treibende Kraft“ als Hauptstück mit einer großen Besetzung, in der nicht immer alle auf den Proben anwesend sein müssen. Diese Freiphasen der einzelnen Schauspieler:innen sind dann als Rahmenzeiten für das Rucksackstück verfügbar, wobei immer dann, wenn das Hauptstück geprobt wird, Teile des Kollektivs in Fassung, Text und szenischer Einrichtung nach Verfügbarkeit daran weiterarbeiten. Eigentlich eine ganz einfache Kalkulation und ein sehr moderner Ansatz, weil sich die klassische hierarchische Arbeit der Regisseur:innen oder szenischen Realisier:innen auf mehrere Schultern verteilt. Unser Kollektiv für „Ein ganzes Leben“ setzt sich aus Roman Blumenschein, Rudolf Frey, Ayşe Özel und mir Daniel Theuring zusammen. Ein weiterer Vorteil dieses Prozederes ist, dass Rudi aus Sicht der Regie Ayşe aus Sicht der Ausstattung Roman aus Sicht des Schauspiels und ich aus Sicht der Dramaturgie natürlich unterschiedlich spiegeln und dabei ein breiter Bereich in der Probenarbeit abgedeckt wird und dass dieses Team insgesamt eine riesige Theatererfahrung eint, die eine Einzelperson niemals haben könnte. Während dieser Probenphase habe ich Ayşe und Roman dazu befragt.  

Daniel Theuring: Ich fand die Idee von Rudolf Frey, gemeinsam eine Arbeit zu entwickeln, die wie ein Rucksack funktioniert, großartig und war sehr gespannt darauf. Wie ging es euch mit dieser Idee? 

Roman Blumenschein: Den Roman „Ein ganzes Leben“ kenn ich schon lange und als Rudolf Frey mir seine Idee vorgeschlagen hat, war für mich sofort klar, dass ich da anbeißen muss! Wie das mit dem Rucksack genau aussehen würde, konnte ich mir da noch gar nicht so genau vorstellen, lasse mich aber immer gerne auf Experimente ein. 

Ayşe Gülsüm Özel: Das Wort „Rucksacktheater“ erweckte gleich mein Interesse, als ich es zum ersten Mal von Rudi zu hören bekam. Es deutet auf eine kleine Dimension hin, gleichzeitig heißt das Stück aber auch „Ein ganzes Leben“. Kombiniert mit dem Wunsch, als Kollektiv zu arbeiten, stellt die Arbeit eine besondere künstlerische Herausforderung dar und eine, die mir großen Spaß macht. 

DT: Ihr beide kennt Rudolf Frey schon länger als ich und habt beide schon mehrmals mit ihm zusammengearbeitet, aber auch noch nie in einer kollektiven Einrichtung, oder?  
Für mich ist es das erste Mal in so einer Konstellation und ich bin begeistert, wie gut das funktioniert. Wie geht es euch damit? 

RB: Kollektiv zu arbeiten, ist für mich seit etwa drei Jahren der größte Anreiz in meinem Beruf. In verschiedensten Konstellationen haben wir in Wien Theaterstücke, Hörspiele, Live- Performances und Forschungsprojekte realisiert. Für kollektives Arbeiten am Theater wurden auch schon verschiedene Methoden entwickelt, damit habe ich mich noch gar nicht viel beschäftigt. Für mich bedeutet kollektives Arbeiten, das sich alle auf Augenhöhe begegnen. Regisseur:innen, Spieler:innen, Dramaturg:innen, Bühnenbildner:innen, Musiker:innen, Autor:innen und alle anderen Formen von Künstler:innen, aber auch Techniker:innen, Assistent:innen usw. Die Arbeitsprozesse finden weniger parallel statt, sondern verbinden sich zu einem gemeinsamen. Das Positive daran ist, dass alle mehr Einblick und Verständnis für die kreativen Prozesse der anderen bekommen, was wiederum die Kreativität aller anregt. Und wenn sich niemand hinter einer klar zugeteilten Aufgabe verstecken kann, wird auch von jeder einzelnen Person eine größere Form der Verantwortung für das gesamte Projekt übernommen. Meiner Erfahrung nach klappt kollektiv arbeiten am besten, wenn man sich bereits kennt und mit dem Potenzial aller vertraut ist. Mit dem Dream-Team von „Ein ganzes Leben“ fühle ich mich wirklich sehr beschenkt! 

AÖ: Theater ist seinem Wesen nach ein Gesamtkunstwerk, in dem viele Beteiligte mitwirken und jede:r seine Perspektiven einbringt. Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, an dem die kollektive Arbeitsweise passen könnte. 2018 lernte ich das Performance-Kollektiv She She Pop auf einem Festival kennen und nahm an einem mehrtägigen Workshop teil, in dem sie uns vorstellten, was sie als Kollektiv ausmacht und ihre Arbeitsweise vermittelten. Die Stärke und Größe der Gemeinsamkeit ist unbestritten, erfordert aber viel mehr Zeit, Gespräch und Geduld füreinander als in hierarchischen Strukturen. Und das funktioniert, wie Roman auch sagt, am besten, wenn die Beteiligten sich kennen, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der alles größer und schneller werden muss, der keinen Raum für nicht erfolgreiche Experimente anbietet. Ich habe mich auch mit dem Konzept „Ayşe X Staatstheater“ von Emre Akal und Antigone Akgün befasst, das für Chancengleichheit und Basisdemokratie im Theater steht, und eine Hypothese entwickelt, wie das Theater dann aussehen würde. Das ist eine tolle Vorstellung und sollte nicht nur Fiktion bleiben. Als Rudi mir unsere erste gemeinsame Arbeit „Dante:Dreams“ anbot, die auch im Kollektiv entstand, stand das Thema für mich bereits im Mittelpunkt und ich bekam so auch  die Möglichkeit die Theorien in der Praxis zu betrachten. Die Erfahrung war ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, dass wir nun wieder die Möglichkeit haben, ein weiteres gemeinsames Experiment auf die Beine zu stellen und bin wirklich gespannt, wie gut unser Team mit Daniel, Roman und Rudi zusammenarbeitet.

Teaser: Film IT Südtirol

DT: Roman, ich vermute, dass es für Dich die insgesamt anstrengendste Erfahrung ist, weil Du ja fast immer gleichzeitig auch als Schauspieler in „Die treibende Kraft“ arbeitest. Wie muss man sich das vorstellen? 

RB: Da gibt es einerseits die organisatorische Herausforderung, die beiden Dinge unter einen Hut zu bekommen. Anstrengend ist aber vor allem die künstlerische Komponente, da man dauernd auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzt und sich nicht mit seiner Kreativität voll und ganz auf eine Sache konzentrieren kann. Ich bin inzwischen von meinem Berufsalltag gewöhnt, dass sich Projekte überschneiden, aber mit so einem Extrem hatte ich es noch nie zu tun. Nach der Premiere von „Die treibende Kraft“ musste ich dann doch eine große Erleichterung feststellen, mich nur mehr auf „Ein ganzes Leben“ konzentrieren zu können.  

DT: Ayşe, Du machst normalerweise Bühnen, Kostüme und hast zudem auch noch einen Lehrauftrag an der Staatliche Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Ist diese Arbeitsweise ein Ansatz mit Zukunftspotenzial? 

AÖ: Die Studierenden interessieren sich für das kollektive Arbeiten und wir konzipieren immer wieder Projekte, in denen wir diese Möglichkeit anbieten. Wir betrachten dabei, dass manchmal der Wunsch danach aus einem Pragmatismus entspringt, und das widerspricht sich. Wir dürfen nicht vergessen, dass ein Kollektiv im Vergleich zu Hierarchie mehr Verantwortung bedeutet, mehr Ressourcen braucht und mehr Vertrauen erfordert. Nur dann, wenn wir die Bedingungen anpassen, kann der Ansatz eine Zukunft haben. 

DT: Was war euer erster Eindruck vom Stoff „Ein ganzes Leben“? 

RB: Ich kannte den Roman schon. Ich kann mich erinnern, dass ich ihn beim ersten Lesen vor ein paar Jahren verschlungen habe und er unmittelbar eine sehr wichtige und tröstliche Komponente in meinem Leben eingenommen hat. Und jetzt bekomme ich mit, dass es sehr vielen Menschen genau so erging. Das finde ich sehr spannend. Der Frage nachzugehen, was genau diese Qualität ausmacht in der Erzählung.  

AÖ: Ich hatte das Buch auch in meinem Regal, hatte es aber noch nicht gelesen. Ich habe das Buch geschenkt bekommen, weil ich schon seit vielen Jahren für die Vereinigten Bühnen nach Bozen komme, aber sehr wenig über die Berge und das Leben in den Bergen weiß. Jetzt kenne ich ein ganzes Leben in den Bergen und die Qualität dieses Romans haben mir dieses Leben so präsentiert, dass ich wiederum daraus etwas für mein Leben mitnehmen kann. 

DT: Ich habe den Text als sehr inspirierend, schlagfertig, karg und geheimnisvoll zugleich empfunden, gleichzeitig hatte ich allein erst einmal viele Fragen, wie man den wohl in einer performativen und multidisziplinären Art und Weise auf die Bühne bringen kann, ohne dass da nicht die bekannte frontal Vorlesesituation eintritt. Allein hätte ich mir das ehrlich gesagt nur konventionell als szenische Lesung vorstellen können. Unsere gemeinsame Power, den Probenprozess erheblich offener und breiter in allen Bereich werden lassen und das ist eine extrem gute Erfahrung. Wie geht es euch damit? 

AÖ: Ja, das ist ein gemeinsames Abenteuer mit offenem Ende auf den Spuren von Andreas Egger. Aber es geht nicht nur darum, seine Geschichte zu erzählen, sondern Andreas Egger erlebbar und spürbar zu machen. Durch diesen Ansatz sind unsere Proben sehr sinnlich geworden und das ist etwas ganz Besonderes.  

RB: Ich kenn ja die Arbeiten von Ayşe und Rudolf und ihre oft unkonventionellen Herangehensweisen. Hmm, wie soll ich das beschreiben? Wenn man gefragt wird, ob man einen tollen Text gemeinsam mit so bemerkenswerten Künstler:innen auf eine Bühne stellen will, fühlt sich das an, als würde man als Kind vorm Weihnachtsbaum stehen. Ich liebe solche Abenteuer. Auch weil man nicht weiß, was genau da am Ende rauskommen wird.  

DT: Als Dramaturg bin ich in gewisser Weise auch immer verpflichtet, das Werk des Autors zu schützen. Dabei sind Änderungen möglich, aber der Kern und die Struktur sollte dabei nicht neu übersetzt werden, außer es geht um völlig überkommene Vorgänge und Verhaltensweisen, die heute nicht mehr zu vertreten sind. Dann muss man allerdings auch überlegen, ob man den Stoff noch für die Bühne einrichten will und oder warum. Robert Seethaler sagt, dass es ihm gleich ist, was andere Medien, Theater oder Film aus seinem Stoff machen, dass das gelingen und schiefgehen kann, ist ihm bewusst. Aber sein Roman steht deshalb ja trotzdem als Referenz in der Welt und kann dadurch nicht mehr geschmälert werden. Das ist eine sehr liberale und uneitle Haltung für einen Autor, die uns die Freiheit gegeben hat, mit seinem geistigen Eigentum in unserer Fassung für die Bühne frei umgehen zu können. Was bedeutet das für Schauspiel und Ausstattung?  

RB: Das ist eine tolle Haltung von Herrn Seethaler! Man nimmt ihm ja nichts weg. Sondern lässt etwas Neues entstehen und generiert dadurch einen universalen künstlerischen Entwicklungsprozess. Für mich als Schauspieler bedeutet das, dass ich den Originaltext nach bühnentauglichem „Material“ analysiere. Was für Figuren gibt es? Gibt es direkte Reden? Welche Schauplätze und Situationen gibt es? So hatten wir alle unsere unterschiedlichen Annäherungen und letztendlich eine, wie ich finde, sehr gute verdichtete Textfassung erstellt. 

Foto: Anna Cerrato

AÖ: Jede:r von uns hat schon einmal die Erfahrung gemacht, dass die Verfilmung unseres Lieblingsromans im Kino ganz anders aussah, als wir es uns beim Lesen vorgestellt haben. Vorstellungskraft entsteht aus Wahrnehmungserfahrungen und das ist bei jedem Menschen anders. Es gibt nicht nur einen Andreas Egger, sondern so viele, wie es Menschen gibt, die diese Geschichte erfahren haben, und ich kann nur den einen Egger gestalten, den nur ich kenne. 

DT: Es ist schön gemeinsam mit euch dieses Buch auf eine Theaterbühne zu bringen. Wir haben viel gemeinsam erlebt und voneinander profitiert.  

AÖ: Egger ist ein Voltron und wir bilden ihn gemeinsam. Wir öffnen uns alle sehr weit und arbeiten eng zusammen, so habe ich die Möglichkeit, eure Herangehensweisen, eure Prozesse mitzuerleben. Das bereichert mich.  

DT: Und der Prozess soll nach der Premiere ja auch noch nicht enden. Die Einrichtung soll sich immer weiterentwickeln. Auch eine sehr moderne Methode, die den lebendigen Prozess im Theater vorantreibt.  

RB: Darauf bin ich sehr gespannt. Die Idee ist ja, ein paar Elemente in diesem Theatererlebnis zu haben, die nicht berechenbar sind, also immer einen neuen überraschenden Input geben für den weiteren Verlauf der Performance. Oder etwas, das wachsen kann und von Vorstellung zu Vorstellung mehr Form annimmt. Ja, ich glaube, es ist ein zeitgemäßer Ansatz, Theater aus dem abgesicherten Setting von- Publikum sitzt im Zuschauerraum, Vorhang auf Show auf der Bühne, Vorhang zu – mehr zu einem Happening zu entwickeln und dass sich das Publikum mehr einbringen muss und in gewisser Weise Mitgestalter wird. Jedenfalls würde mich das sehr reizen. 

AÖ: Theater findet live statt und meiner Meinung nach wird im Jahrhundert der fortschreitenden Digitalität die Bedeutung dieses Live-Charakters zunehmen, was sich am deutlichsten in den Happening-Momenten manifestiert. Zumindest geht es mir so, dass ich mir diese Happening-Momente auf der Bühne zunehmend mehr wünsche. Sie bringen Publikum und Performer:innen näher zusammen und erzeugen eine exklusive Gemeinschaft für die Dauer der Performances. Das, was an dem Abend auf der Bühne passiert, wird morgen nicht mehr dasselbe sein. 

DT: Warum sollte man sich diese szenische Einrichtung eines „Rucksacks“ nicht entgehen lassen?

RB: Na, an erster Stelle natürlich wegen dieser großartigen und inspirierenden Figur Andreas Egger, in dessen ganzes Leben wir Einblick geben. Der trotz Schicksalsschlägen und Hindernissen es schafft, eine versöhnliche und hingebungsvolle Beziehung zum Leben zu behalten. Und weil das Publikum den Theaterraum anders erfahren wird, als es ihn vielleicht gewohnt ist. Und weil ich mich sehr darauf freue, die Reise durch Eggers Leben mit vielen Menschen gemeinsam zu begehen.  

AÖ: Und weil dieser Streifzug durch Eggers Leben mit seinen außergewöhnlich reduzierten Mitteln das Publikum von der großen Wirkung des Theaterzaubers überzeugen kann. 

Vielen Dank! 

Von intensiven Probenwochen und persönlichen Ungeheuern 

Ein Gespräch über den Entstehungsprozess des Stücks „Die Nacht so groß wie wir“. Regisseurin Eva Kuen und Theaterpädagoge Benni Troi im Interview mit der Dramaturgin Friederike Wrobel. 

Friederike Wrobel: Am Theaterpädagogischen Zentrum in Brixen (TPZ) arbeitet ihr seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Ihr habt diverse Theatergruppen mit über 200 Spieler:innen und insgesamt über 20 Produktionen im Jahr. „Die Nacht so groß wie wir” ist die erste Koproduktion mit dem Jugendclub der Vereinigten Bühnen Bozen. Was ist der Unterschied im Vergleich zu euren anderen Inszenierungen? 

Benni Troi: Ich denke, dass es sich vor allem durch das ganze „Drumherum” unterscheidet. Allein die stundenmäßige Anzahl an Proben. Wir proben jeden Samstag fünf bis sechs Stunden — mit den Gruppen am TPZ haben wir eineinhalb Stunden pro Woche. So ist es viel intensiver. Auch vom Bühnenbild her ist es ein großer Unterschied. Weil wir so viele Produktionen haben, reduzieren wir das Bühnenbild eher. Manchmal haben wir vier Aufführungen an einem Tag mit vier unterschiedlichen Gruppen im gleichen Raum. Außerdem fand ich es sehr spannend, mit Eva zu arbeiten. Das war irgendwie ganz lustig, die Schnittstelle zwischen dem künstlerischen Teil von Eva und der Arbeitsweise der Jugendlichen zu sein. 

Eva Kuen und Benni Troi auf der Probebühne
Foto: Benjamin Rosanelli

FW: Und wo ist der Unterschied für dich, Eva, dass du mit Benni die ganze Probenzeit einen Theaterpädagogen an deiner Seite hast, mit dem du die Proben zusammen gestaltest? 

Eva Kuen: Ich habe gemerkt, dass es für mich anfangs schwierig war, die richtige Sprache zu finden. Ich spreche so ganz „Theatersprache”, also so, wie wir es im professionellen Theater auf den Proben gewohnt sind zu kommunizieren. Zum Beispiel habe ich viele Anweisungen als Subtexte gegeben, dann aber gemerkt, dass mich die Jugendlichen da manchmal ratlos anschauen. Benni hat das dann übersetzt in etwas anderes, was für die Jugendlichen verständlich war. Da musste ich erst mal reinkommen und sehen, wohin kann ich sie führen und wo hole ich sie ab. Auch durch die Arbeitsaufträge, die die Jugendlichen dann bekommen haben, habe ich gelernt, mehr auszulassen, sodass sie viel selber erarbeiten. Wir haben Input gegeben und die Jugendlichen haben zunächst ihre eigene Improvisation dazu gemacht. Danach habe ich das natürlich geordnet und es manchmal in eine etwas abstraktere Form gebracht. Wichtig ist jedenfalls, dass möglichst viel aus den Jugendlichen selbst herauskommt und man ihnen nichts aufsetzt.  

FW: Wie habt ihr konkret mit ihnen das Stück erarbeitet und wo konnten sie sich einbringen?

EK: Am Anfang haben wir erst mal viel Basisarbeit und Bewegungsübungen im Raum gemacht. Benni hat da als Theaterpädagoge ein großes Repertoire. Dann haben wir das Stück gelesen und erst mal entschlüsselt. Das war am Anfang gar nicht so leicht für die Jugendlichen.

BT: Ja, weil mehrere Personen die gleiche Rolle spielen und viele Zeitsprünge im Stück sind. Und das alles zu klären, dass sie auch selber damit etwas anfangen und für sich klar machen können, wie sie das zeigen möchten, das war gut die erste Hälfte des Probenprozesses.

EK: Wenn man Jugendliche improvisieren lässt, dann bebildern sie die Dinge im ersten Moment oft eins zu eins. Das war auch ein Prozess für sie, zu verstehen, wie man bei so einem Stück in die Abstraktion gehen kann und was sie da für Werkzeuge benutzen können. Da wachsen sie immer weiter rein. Das ist sehr spannend.

BT: Das war für mich ein sehr sehenswerter Arbeitsprozess. Am Anfang haben wir viele sehr klare Anweisungen gegeben. Und das ist über den Prozess chaotischer und die Ergebnisse besser mit dem Chaos geworden. Weil sie angefangen haben, selber nachzudenken und sich weniger führen zu lassen, sondern mehr Sachen selber anzubieten, mit denen wir uns dann leichter tun, zu sagen, die Richtung gefällt uns oder in die Richtung kann man mehr oder weniger machen.

EK: Ich finde jedes Theaterstück hat immer eine eigene Temperatur. Die gilt es herauszufinden. Und irgendwann gab es bei den Proben so einen Knackpunkt. Plötzlich haben sie eine ganz andere Energie gefunden.

FW: Könnt ihr ganz kurz sagen, wovon das Stück handelt?

BT: Also für mich geht es im Stück um fünf Freund:innen, die mit ihrer Kindheit abschließen möchten, um irgendwie zusammenbleiben zu können, aber das geht sich nicht für alle aus.

EK: Ja, sie müssen erkennen, dass jeder neue Lebensabschnitt auch ein Abschied ist von etwas und dass man nicht weitergehen kann, ohne was anderes zurückzulassen.

FW: Im Stück geht es genau bei diesem Abschließen der Kindheit darum, dass jede:r sein persönliches Ungeheuer treffen muss. Meint ihr, dass die Spieler:innen auch schon im Probenprozess ein persönliches Ungeheuer überwinden mussten oder sind sie einfach mit Freude dabei?

BT: Also ich glaube, unsere Spieler:innen sind eine ganz eigene Kategorie Mensch. Die sind nicht aufgeregt, die haben kein Stress, die sind einfach „brutal”.

EK: Es gab einmal in der Mitte der ersten intensiven Probenwoche in den Ferien einen kurzen Frustrationsmoment. Alle waren müde, hatten einen vollen Kopf. Und natürlich wäre es angenehm nach einer Improvisation zu hören: „Ja super, so machen wir das!” Aber so läuft das ja nicht beim Proben, sondern man bietet etwas an und dann probiert man nochmal was anderes. Gemeinsam suchen eben. Aber an diesem Punkt ist ihnen dieser Prozess etwas auf die Nerven gegangen und es hat ein wenig geknirscht. Aber letztendlich war das super, weil sie danach einen totalen Sprung gemacht haben. Aus der Frustration heraus haben sie ein paar sehr schöne Szenen mit einer super Energie improvisiert, mit denen wir alle sehr happy waren.

Einladung unserer Koproduktionen nach Deutschland und China 

Die Koproduktionen mit der Kula Compagnie „Underground Birds“ (Spielzeit 22/23) und „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ (Spielzeit 19/20) werden nochmal gespielt. 


Underground Birds 

25.05.2024, 20 Uhr, Underground Birds, Akademie der Künste, Berlin, Deutschland

Mehr Infos HIER

Foto: Luca Guadagnini

A play developed by the KULA Compagnie and the women artists of the SIMORGH THEATER, Herat. Co-production with Vereinigte Bühnen Bozen (IT), Hålogaland Teater Tromsø (NO), Simorgh Theater, Herat (AF) and the KULA Compagnie. 


In Italian, German, Farsi, English, French, Hebrew, Norwegian and Arabic 

The surtitles are available in English, German, Italian or Norwegian. 


“The thrill of flying high in the blue sky eventually kills me. My legs have been chained underground for a long time, robbing me of my ability to fly. No one can imprison, limit, or take away the dream of sunlight shining on my wings when I sleep. How wonderful it is to fly, to be free, and to enjoy freedom. With each passing day, the sweetness of free life and freedom fades under my tongue. Make a solution, oh you who can, that this spirit, who was full of the spirit to live and vivacious, is taking its last breaths.” 

Tahera Rezaie 


Die Stunde da wir nichts voneinander wussten 

15.06.2023, 19.30 Uhr, Die Stunde da wir nichts voneinander wussten, Aranya International Theater Festival – China 

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Mehr Informationen


Mehr Infos HIER


Die KULA Compagnie erkundet mit “Die Stunde da wir nichts voneinander wussten” einen öffentlichen Raum, in dem noch nicht, noch nicht wieder oder nicht mehr gesprochen wird. 12 Schauspieler:innen aus sechs Ländern durchmessen einen Platz im zeitlichen Zwischenraum, in dem sich eine europäische Agora neu konstituiert. 

Vor mir weint der Turm 

Anmerkungen zu meiner Recherche 

von Thomas Arzt 

Meine erste Notiz: „Eine Frau kehrt zurück an den Ort eines Verbrechens.“ Am Ende dieser ersten Skizze (November 2021) hatte ich vermerkt: „Ein Gefüge von Wissenden und Verbergenden“. 

Rückblende: Die erste Begegnung mit dem See ist ein Film ohne Ton. Ich sitze im Zug, fahre zu einer Theaterprobe. Die Kopfhörer habe ich vergessen. Ich möchte niemanden stören. Also schaue ich mir die Dokumentation über „Das versunkene Dorf“ mit Untertitel an. Ich versinke in den Aufnahmen der Seeoberfläche. Und in den Gesichtern von Menschen, die aus ihrem Leben berichten. Ich höre sie nicht. Aber untersuche ihre Mimik. Alles wird mit zwei unterschiedlichen Augen erzählt: einem lachenden und einem weinenden. 

Die Rückfahrt: Mir geht der See nicht mehr aus dem Kopf. Ich skizziere ein zu langes Drama mit zu vielen Figuren an zu vielen Schauplätzen. Keine „Opfererzählung“! Keine Dokumentation des bereits Dokumentierten. Ich verliebe mich in die Geschichte eines Ingenieurs, den es nie gab. Finster schillernd, faustisch verloren, nur zu retten durch eine Lichtgestalt, seinen Assistenten. Der Staudamm soll keine Gefahr sein, sondern eine Vision, die Glück verspricht! Zugleich zögere ich. Was wird aus den realen Biografien? Wie der tatsächlichen Geschichte gerecht werden? 

Autor mit Turm, März 2023 

Ich rufe Rudi Frey an. Ich sage ihm, mein PROJEKT RESCHENSEE habe sich verändert. Ich hatte ursprünglich vor, „sicher nichts Historisches“ zu schreiben. Nun sitze ich ausschließlich am Historischen. Ich schreibe über die 1920er bis 1960er Jahre in Südtirol. „Eine elendslange Parabel! Es geht um Fortschrittsfanatismus und Krieg.“ Wir verabreden uns in Wien, reden darüber, dass Südtirol ein „sonnenbeschienenes“ Land sei. Dass es wirklich viele Sonnentage gibt. Dass die Schatten nicht verschwinden. Und dass Vieles über Südtirol gesagt ist, aber meistens in Stücken mit Bauernstuben. Ich verlege meine Szenen nach draußen in die Natur. 

Sommer 2022, Nationalbibliothek Wien: Ich lese über den Stauseebau. Über politische Eingriffe in ein regionales Gefüge. Über Industriezonen und Bergdörfer. Macht und Ohnmacht. Faschismus, Nationalsozialismus, Widerstand, Opportunismus, „Option“, Flüchtende, Umgesiedelte, Gebliebene, „Außig’wasserte“, Tote, Vergessene. Über Hoffnung und Technik. Wohlstand und Profit. Vision und Wasserkraft. Autonomie und Lügen. Ich merke: Südtirol verstehe ich viel zu wenig. 

Ich recherchiere: Es gibt 20 „Südtiroler Plätze“ in Österreich. 2 in Deutschland. Ich verstehe erstmals die Zusammenhänge besser. 

Ich lerne, manche sagen „Terroranschlag“, andere „Freiheitskampf“, manche sagen „Europapolitik“, andere „Heimatverrat“. Ich lese von Duce-Verehrung, skurriler Geschichtsvergessenheit, nostalgischer Brauchtumspflege, Denkmaldiskurs und extremem Aktivismus. Ich verwerfe mein Konzept. Das ist alles zu viel!  

Wieder eine Zugfahrt: Ich streame alle vier Teile des Filmepos „Verkaufte
Heimat“ (Regie: Karin Brandauer/Gernot Friedel, Buch: Felix Mitterer), online
abrufbar auf suedtiroler-freiheit.com. Ich versinke in den Leben der Figuren.
Fiebere mit. Weine. Lache. Blicke demütig in den Abspann. Und beschließe: Ich
bin der falsche Autor für diese Geschichte. Es wurde bereits alles erzählt.
Nicht nur in Stücken mit Bauernstuben. 

Herbst 2022, am Laptop erneut die Website suedtiroler-freiheit.com: Ich
versuche zu verstehen, welches Südtirol hier gemeint ist. Welche Freiheit. Ich
frage mich, warum diese Website gerade diese „Mitterer-Geschichte“ als Stream
anbietet. Wer bedient sich welcher Geschichte? 

Ich überarbeite mein Konzept. Suche nach dem Heute in dem Stauseedrama. Nach
Strukturen des Erinnerns. Aus 9 Figuren werden 18. Alle laufen nun mit Schatten
rum.  

März 2023: Ich fahre zum See, mit einem Mietauto von Innsbruck über den
Reschenpass. Aber der See ist nicht da. Das Wasser wurde abgelassen. Ich starre
auf den Grund. 

In meinem Hotelzimmer in der Hotelmappe die Geschichte des Sees, auf zwei
Seiten zusammengefasst. Andere Orte werben mit Schönheit und Idyll. Dieser Ort
mit einem geschichtlichen Zeigefinger. 

Ich laufe den See ohne See entlang. Ich stelle mir vor, wie früher die
Wiesen und Äcker verliefen, wie Kühe weideten, Kinder spielten, ein Flusslauf
sichtbar war, Hotels direkt am See lagen, ohne trostloser Umfahrungsstraße,
Stege zu Badeplätzen führten und auf dem damaligen Gewässer Ausflugsschiffe die
Sommertouristen von Ufer zu Ufer brachten. Der heutige Anblick ist eine
monströse Grube. Ich sehe eine Frau mit Hund durch das mondartige Gelände
staksen. 

Am Turm: Er ist von gefrorenem Wasser umgeben, da hier das Stauseebecken
extra vertieft wurde. Er sieht einsam aus. Normalerweise ragt die
Kirchturmspitze bizarr aus dem Smaragdblau der eindrucksvoll weiten
Seeoberfläche (laut Internetfotos). Vor mir weint der Turm. Dann bleiben einige
Autos stehen. Fotos werden gemacht. Schnell setzt der Turm sein Tourismus-Lächeln
auf. 

Nachts träume ich, in den Turm zu klettern und einen Schatz zu finden. Oder
ein Skelett. Oder Nazi-Runen. Oder Widerstands-Kassiber. Oder ein geheimes
Paradies vorzufinden, in dem die letzten Pflanzen und Tiere überleben. 

In einem Gasthaus esse ich ein „g’schmackiges“ Wildgulasch. Die Speisekarte
erzählt erneut die Geschichte des Sees samt Unrecht, „das über die Dörfer kam“. 

Im Frühstücksraum meines Hotels zwei deutsche Touristen. Sie fragen, wo
meine Ski sind? Ich sage, ich schreibe ein Stück. Sie wussten bislang nichts
über die Geschichte des Sees. Sie hoffen, „dass die Pisten gut beschneit sind“.
Von herunten sieht alles karg aus. Wieder ein Klimaerwärmungswinter. Was ist
der Zukunftsstausee? 

Ein Mitarbeiter des Heimatmuseum Obervinschgau führt uns (Elisabeth Thaler,
Rudi Frey und mich) versiert durch die Ausstellung. Er kennt Menschen, die „das
Drama“ noch persönlich durchleben mussten. Viel Verbitterung! Aber auch
Ablehnung. „Die einen klammern sich an die alten Geschichten, die anderen können
sie nicht mehr hören.“ Er erklärt, warum das Wasser an diesem Tag weg ist. Ein
Leck im Mantel des Druckstollens! „Die Firma“ macht wieder Reparaturen. Im
Reden hallt Vergangenheit nach. „Sie geben sich heute viel Mühe, die Firma,
aber…“ Mich interessiert das Aber.  

Wir erfahren, dass seit Marco Balzanos Bestseller „Ich bleibe hier“ mehr
Menschen das Museum besuchen. Das Thema werde nun „auch in Italien“
wahrgenommen. Ich frage, warum er „auch in Italien“ sagt, das hier sei ja alles
Italien. Er antwortet rasch: „Ich für meinen Teil bin Südtiroler“. Ich sehe das
weinende Auge. Und das lachende. Dazwischen flackern Verwundung und Zorn. 

Vor meiner Abreise, ich und die Staumauer: Gewaltig. Gewaltiger als sonst,
da ja das Wasser fehlt. Ich sehe Arbeiterinnen und Arbeitern in gelben Westen
und mit gelben Helmen bei den Reparaturen im Heute zu. Später parke ich das
Auto in Innsbruck. Blicke auf die Alpenkette. Hinter diesen Bergen doch ein
anderes Land. Im Zug nach Hause betrachte ich die Fotos meiner Reise. Den See
ohne See. Fast nur Ansichten von Furchen und Rissen am Grund. 

Thomas Arzt